Das Orandârion

Buch I: Mythos

Auszug aus dem Orandârion; Buch I; Über den Ursprung der Worte

Aus dem Kommentar des Gelehrten Ramrir, Gelehrter in Ath-Almar

„Uralte Lieder berichten, dass die Menschen beim ersten Erscheinen des Königs­mondes nur ein einziges Wort kannten, um das Unbegreifliche zu benennen: Orandia.
Es war kein Gebet, kein Gesetz, sondern ein Ausruf des Staunens, geboren aus Unwissenheit und Furcht.
Orandia – so riefen die Bauern auf den Hügeln und die Fischer an den Ufern, wenn das Licht des Hüters ihre Herzen traf.
Es war ein Schrei zwischen Wundern und Fragen.“

„Mit den Jahrhunderten aber begannen die Menschen, im Licht der Monde zu suchen, zu beten, zu wirken. Es war zu jener Zeit, als die ersten das Herz eines Hüters berührten. Sie fanden Wege, das Unsichtbare zu ordnen und nannten dies die Orandie.
Was Orandia noch wild und unverständlich war, wurde in Riten gefasst.
Aus dem Ausruf wurde eine Kunst – die Kunst des Gebets, die Kunst der Linien, die Kunst, das Herz eines Mondes zu berühren.“

„Erst in späterer Zeit, als Könige und Schreiber alles Wissen zusammenführten, entstand die Schrift, die wir heute hochhalten: das Orandârion.
Es ist die Sammlung der Gesänge, Lehren und Warnungen, die den Menschen bleiben sollten.
Darum gilt: Orandia ist der Schrei, Orandie ist der Weg, und das Orandârion ist das Wort, das bleibt.“

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch I; Geboren im Schmerz

Das erste Lied: Die Schöpfung
Am Anfang war die Leere kalt und dunkel.
Da stieg die Träumende mit ihren Schwestern in die Welt der Materie herab.
Sie atmeten mit vereintem Hauch und aus diesem Atem wurden Planeten und Sterne geboren.
Der Schöpfer rief seine Kinder heim – denn die Arbeit war getan.
Und sie folgten, denn das Leben sollte sich nun selbst entfalten.
Nur eine von ihnen entzog sich dem Ruf ihres Schöpfers und blieb zurück – die Träumende.
Denn der Drang, selbst Leben zu erschaffen, brannte in ihrem göttlichen Herzen,
und so verweigerte sie sich der Heimkehr, und blieb. 

Jenseits der Zeit, dem Urschöpfer und ihren Schwestern war sie allein.
Einsam sang sie in die Stille und aus ihrem Lied spross das erste Grün.
Jede Note ließ eine neue Gattung sprießen – vielfältig wie ihre Liebe.
Sie tanzte – und ihre Schritte ließen Funken sprühen.
Die Sonne war entzündet und zog über das Firmament.
Sie weinte hemmungslos – Flüsse, Seen und Ozeane füllten sich in endlosem Strom. Das Wasser floss allerorts, unaufhaltsam wie die Zeit selbst.
Ihre Finger gruben sich tief in die reichhaltige Erde – sie riss Berge empor, hob Täler aus, entfaltete Wälder und Wiesen von unbeschreiblicher Dichte und Weite.
Und während sie mit glühendem Herzen schuf, geschah es: sie erfuhr das, was ihr immer gefehlt hatte.
Sie begann zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen.
Die Sinne, die jedem Sterblichen von Geburt an geschenkt waren, fanden ihren Ursprung im Göttlichen.

 

Das zweite Lied: Der Fall
Doch als sie Menschliches erfuhr, regten sich Kälte und Dunkel in der Leere, denn sie waren vor allem anderen hier.
Sie flüsterten in die neuen Sinne, besudelten ihre Klarheit und entweihten die Tugenden.
Gemeinsam verführten sie die Träumende, näherten sich ihr, berührten ihren Körper, wurden Eins mit ihr. Die reinen Tugenden wurden beschmutzt. 
Aus Mut wurde Zorn,
aus Erkenntnis Hybris,
aus Harmonie Gier.
Die Barmherzigkeit brachte Trauer,
und aus Mitgefühl erwuchs Schmerz.

Die Träumende verlor sich in den eigenen Gaben.
Sie wurde menschlich – und zerbrach daran.
Denn wer die Sinne kennt, kennt auch die Last ihrer Schatten, und deren Verhängnis.

 

Das dritte Lied: Das Opfer
Und auch Kälte und Dunkel teilten ihr Leid.
Aus ihrem Atem gebar die Kälte eine Göttin, und sie nannte sich Nífral,
die unwissende Tochter, welche die Welt im ewigen Stillstand festfror.

Das Dunkel gebar aus seiner Leere einen Gott, und er ward Nârbhal gerufen –
der blinde Sohn, der alles Licht der Erleuchtung zu ersticken droht.

Gemeinsam stiegen sie auf die Erde hinab und drängten über die junge Schöpfung,
und die Träumende wusste, dass sie nicht länger standhalten konnte.
Doch niemals würde sie ihre Schöpfung der Schändlichkeit anheimfallen lassen.

Voller Verzweiflung griff sie in ihre Brust,
riss das schlagende Herz aus ihrem Leib,
und die Adern, die es genährt hatten,
folgten wie zerrissene Wurzeln.

Aus der Wunde quoll blutendes Licht – pulsierend und schwer,
ein Teil ihres göttlichen Wesens,
der sich über die Weite der Welt ergoss und Mensch wie Tier hervorbrachte.
Doch ihre Kinder waren verletzlich – dem kalten Stillstand und der erstickenden Blindheit wehrlos ausgeliefert.
Und so zermalmte sie das Herz in ihrer Hand, und aus jeder Tugend ward ein Mond geboren.

 

Das vierte Lied: Die Ketten
Zuerst waren sie frei – leuchtende Körper mit schlagenden Herzen,
die über Himmel und Erde zogen,
um mit ihrem Schein Nífral zu verbrennen
und Nârbhal aus den Spalten der Welt zu tilgen.

Doch Nífral bäumte sich auf,
uneinsichtig und voller Trotz.
Sie reckte ihre kahlen Finger nach den Monden,
und wo sie sie berührte,
da gefror das Licht zu ewigem Eis.

Nârbhal kam aus den Tiefen gekrochen,
wickelte sich um die neuen Bahnen,
spann Fäden aus Fäulnis und Sturm,
und kettete die Monde aneinander –
an die Erde, an das Firmament, an ihr eigenes Licht.

Ihre Körper begannen zu leiden.
Sie schrien lautlos,
und ihr Glanz erstarb Stück für Stück,
bis sie nur noch Funken der Schöpfung waren –
weder lebendig noch tot.

Nur einer der Hüter entkam dem Griff von Nífral und Nârbhal.
Er wandte sich ab von seinen Brüdern und floh,
dorthin, wo das Licht unverdorben war
und die Träume zart flüsterten.

Nífral und Nârbhal waren nicht länger.
Doch ihr Vermächtnis – die Ketten des Himmels – hielten.
Ein Geheimnis, das nur jene zu sehen vermochten,
die die göttlichen Linien in sich erweckt hatten.

 

Das fünfte Lied: Die Linien
Denn was die Träumende in den Monden barg,
das legte sie auch in die Sterblichen, die aus ihrem Blut geboren wurden.
So entstanden die Linien – Ströme göttlichen Lichts,
die im Fleisch der Menschen verborgen sind.

Die Kriegslinie trägt den Dampf des Drachenmondes.
Die Lebenslinie trägt die Fülle des Dämmerungsmondes.
Die Seelenlinie trägt das Echo des Seelenmondes.
Die Schicksalslinie trägt das Licht des Wächtermondes.
Die Königslinie trägt den Schmerz und die Würde des Königsmondes.

Wer ihre Kraft berührt, berührt das Herz der Träumenden selbst.
So lebt ihr Vermächtnis fort – in den Himmeln und im Blut der Menschen,
bis Kälte und Dunkel eines Tages wiederkehren.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch I; Schöpfungsakt

Das erste Lied – Die Schöpfung

  1. Am Anfang: In der Leere herrschen Kälte und Dunkel.
  2. Die Ankunft: Die Träumende und ihre Schwestern steigen in die Welt der Materie herab.
  3. Der Schöpfungsatem: Ihr vereinter Atem erschafft Sterne und Planeten.
  4. Der Ruf des Schöpfers: Er ruft seine Kinder zurück – die Schöpfung soll sich selbst entfalten.
  5. Die Rebellion: Nur die Träumende bleibt zurück, getrieben vom Wunsch, eigenes Leben zu erschaffen.
  6. Das Lied der Schöpfung: Aus dem einsamen Gesang der Träumenden entstehen unzählige Pflanzen, Sonne, Flüsse, Berge, Wälder und Wiesen.
  7. Die Geburt der Sinne: Durch das Schaffen erfährt sie erstmals Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen – die Quellen der Sterblichkeit.

 

Das zweite Lied – Der Fall

  1. Das Erwachen des Menschlichen: Durch ihre neuen Sinne erfährt die Träumende menschliche Emotionen.
  2. Das Erwachen der Dunkelheit: Kälte und Dunkel in der Leere spüren ihre Veränderung und flüstern zu ihr. Ihre Berührungen sind zahlreich, ihre Versprechen verräterisch, ihr Drängen intensiv, ihre Einheit unvermeidlich. 
  3. Die Verdrehung der Tugenden:
    • Mut wird zu Zorn
    • Erkenntnis zu Hochmut
    • Harmonie zu Gier
    • Barmherzigkeit bringt Trauer
    • Mitgefühl wird zu Schmerz
  4. Der Bruch: Die Träumende verliert sich in ihren eigenen Gaben – sie wird menschlich und zerbricht daran.

 

Das dritte Lied – Das Opfer

  1. Die Geburt der Gegengötter:
    Die Einheit lässt auch Kälte und Dunkel die verdorbenen Tugenden erleiden.
    • Aus dem Atem der Kälte ward Nífral geboren, die unwissende Tochter, deren Frost alles Leben im Stillstand hält.
    • Aus der Leere des Dunkel entstieg Nârbhal, der blinde Sohn, der jedes Licht der Erleuchtung zu ersticken droht.
  2. Der Angriff: Nífral und Nârbhal fahren auf die Erde hinab und überziehen die Schöpfung mit Stillstand und Unwissenheit.
  3. Die Verzweiflung: Die Träumende erkennt ihre Ohnmacht gegenüber den neuen Göttern. Die Last der Menschwerdung bereitet ihren Tod.
  4. Das Opfer:
    • Sie reißt ihr Herz heraus, das göttliches Licht enthält.
    • Aus ihrem Blut entsteht das Fleisch: Mensch und Tier.
    • Doch da dieses Leben verletzlich ist, zerschmettert sie ihr Herz.
    • Aus jeder Tugend entsteht ein Mond.

 

Das vierte Lied – Die Ketten

  1. Die Geburt der Monde: Lebendige, leuchtende Wesen mit Herz und Willen.
  2. Ihr Auftrag: Mit ihrem Licht sollen sie Nífral und Nârbhal vernichten. Sie ziehen über die Welt und lassen Nífral und Nârbhal keinen Rückzugsort.
  3. Der Gegenangriff:
    • Nífral friert das Licht der Monde zu ewigem Eis.
    • Nârbhal umwickelt sie mit Fäden aus Fäulnis und Sturm.
  4. Die Fesselung: Die Monde werden an die Erde gekettet – ihr Weg über den Himmel ist zu Ende und sie müssen verharren. Ihre Herzen schlagen langsam.
  5. Der letzte Hüter: Einer der Monde entkommt und flieht in unverdorbenes Licht.
  6. Das Ende der Feinde: Nífral und Nârbhal vergehen, doch ihre Fesseln bleiben. Die Welt unter den Mondhütern wird in neuer Konstellation gebändigt. Die Ketten schaffen Ordnung für die Sterblichen, doch sind sie gleichzeitig ein Gefängnis.
  7. Das Vermächtnis: Nur jene mit göttlichen Linien im Fleisch können die Wahrheit der Ketten erkennen.

 

Das fünfte Lied – Die Linien

  1. Das Vermächtnis im Blut: Die Träumende legt einen Teil ihrer Macht in die Sterblichen – der göttliche Mondschein zirkuliert in ihren Adern.
  2. Die Orandielinien entstehen: Ströme göttlichen Lichts glühen im menschlichen Fleisch – bei all jenen, die das Herz eines Mondes zu berühren vermögen.
  3. Die fünf Linien und ihre Monde:
    • Kriegslinie: Dampf des Drachenmondes
    • Lebenslinie: Fülle des Dämmerungsmondes
    • Seelenlinie: Echo des Seelenmondes
    • Schicksalslinie: Glanz des Wächtermondes
    • Königslinie: Würde des Königsmondes
  4. Das Erbe der Träumenden: Wer die Linien erweckt, berührt ihr Herz selbst.
  5. Der Kreislauf: Ihr Vermächtnis lebt fort in Himmeln und Menschenblut – bis Kälte und Dunkel zurückkehren.

Buch II: Aufstieg

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Seine Diener

  1. Bericht des Luvran, Priester der Bruderschaft Vitarnyas

Voll der Wildheit und Gefahr für Leib und Seele waren die Tage.
Der Menschen Wehmut wuchs unter den Hütern, ohne ihr schützendes Band.

Die Fürsten herrschten über weite Lande, doch keiner achtete den andern, und Krieg lag schwer auf allen Reichen.
Jeder nahm, was er begehrte, und das Blut floss über die Felder wie der Regen.
Gesetze waren viele, doch keines galt für alle, und Lieder waren viele, doch keines einte die Stimmen. Nur das Schrei’n der Starken und das Weh’n der Schwachen füllte die Welt.

Da sah ich ihn, den Hohepriester. Sein Antlitz war wie Ruhe im Sturm, und sein Wort war Hoffnung. Er sprach nicht von Schwert noch Sieg, sondern vom Hüter Vitarnya, der die Augen der Menschen auf das Licht lenken wollte.

„Folget mir, Brüder!“, sprach er wie der Herrscher im Leib des Bettlers.
„Eint Euch – und öffnet dem Herzen des Hüters das Tor. Denn Vitarnya der Wächter erleuchte Euren Weg!“
Und meine Brüder und ich folgten ihm fortan durch die Jahre, denn sein Herz war wie das Feuer, welches das Dunkel durchdrang.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Die erste Berührung

  1. Bericht des Luvran, Priester der Bruderschaft Vitarnyas

Und der Hohepriester erhob sein Haupt, und siehe: am Dach der Welt verschmolz der Hüter mit den Farben des Himmels.
Da versank er in tiefstes Gebet, und seine Haut erbleichte, und er vernahm weder unser Rufen noch unser Rühren.

Doch Priester Madera sprach: „Rühret ihn nicht an!“ Und er breitete seine Arme weit aus und trieb uns von des Hohepriesters Leib hinweg.
„Hinfort! Fühlet ihr es nicht?“ rief er, und seine Stimme hallte wie aus der Klamm des Gebirges, ja, wie der Berg selbst.
„Erhebet eure Herzen! Verstummet eure Gedanken!“

Da legten wir die Hand auf unsere Brust, und siehe, unser Herz schlug wie nie zuvor.
Und Vitarnya verschlang die Sonne, und große Düsternis lagerte sich über die Welt.
Und Madera rief: „Sehet! So sehet doch!“ Und sein Finger zeigte auf den Hüter.
„Ihre Herzen schlagen im Einklang!“

Und als er noch redete, war es geschehen: Vitarnya entblößte seinen Leib.
Die Wogen spalteten sich, und ein Licht so rein, dass kein sterblich Auge es je geschaut, brach hervor.
Und der Hohepriester saß wie versteinert in unserer Mitte, die Augen geschlossen, unerschütterlich, als habe er die Zeit selbst gebannt.

Und seine Lippen regten sich, und Silben fielen aus ihm wie Wasser aus dem Felsen, und sie waren nicht seine eigenen Worte.
Fetzen waren es, die wir nicht deuteten:
Ewiges Licht… Hüter, öffne dein Herz… Kreislauf… Spuren in der Hand…

Da schwand er von uns, der Hohepriester, und seine Augen irrten unter den Lidern, als sei er weit entrückt.
Und wiederum entströmten ihm fremde Worte:
Ergieße den Glanz… mehr denn Schatten… deinem Ruf folgt unser Blut…

Und Furcht kam über uns, und wir wichen zurück.
Allein Madera blieb zu seiner Rechten.

Und es geschah, da Vitarnya die Sonne wieder entließ und sein Leib aus wandelndem Licht sich schloss, dass der Hohepriester aufsprang.
„Der Hüter! Der Hüter! Preist Vitarnya, preiset unsern Beschützer!“ rief er, und seine Stimme überschlug sich.
Und er reckte seine Hand gen Himmel, und siehe: Bahnen glühten in seinem Fleisch wie von smaragdnem Schein entzündet.

Schmerz lag auf seinem Antlitz, doch auch Freude ohne Ende.
Und die Linien entfalteten sich wie das Wasser, das durch Stein rinnt.

Und er rief: „Orandia, Orandia! Vitarnya ist in mir und in allen von uns! Ein Reich werd ich dem Band zu Ehren gründen!“
Und sein Ruf ward Gebet, und das Gebet ward Gabe.

„Doch wo nur, Herr?“, lagen die Gedanken der Brüder offen.
Da sprach der Hohepriester: „Nicht hier will ich bauen – in die Ferne muss ich ziehen. Denn so ist der Bund: Ein Leuchtfeuer der Orandia in der Hand des Königs der Monde.“

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Die Reise in die Ferne

  1. Bericht des Luvran, Priester der Bruderschaft Vitarnyas

Und lange folgten wir dem Hohepriester.
Über viele Gestade führte er uns, durch die blühenden Reiche Vitarnyas: über Gebirge und Täler, über Ebenen und Wälder.
Fünfzehn waren wir an der Zahl, die ihm folgten, in das Land, das er gelobt nannte.
Denn der Hüter hatte es ihm offenbart.

Und die Jahre vergingen, und unsere Leiber verfielen, wie alles Fleisch vergeht.
Doch der Hohepriester blieb, als sei er dem Strom der Zeit entrückt.
Denn das Feuer der Orandia hielt ihn, und seine Linien brannten wie von ewigem Licht.

Wir zogen wie Nomaden durch die Dörfer, bis unsere Füße bluteten.
Unter bedecktem Himmel, in endlosen Landen, vermissten wir die Klarheit unsrer Heimat. Dreißig Jahre und mehr gingen wir von Tor zu Tor, und wo wir einkehrten, fiel die Saat. Brüder und Schwestern wuchsen wie junge Triebe, und die Kunde Vitarnyas stand wie ein Baum, dessen Wurzeln tief, dessen Zweige weit sind.

So führte er uns bis in den fernen Westen, wo die Wipfel der Bäume den Himmel streiften, wo Grün in allen Tönen wuchs, reich an Tier und Wasser.
Und wir aßen vom Fleisch des Wildes und tranken vom reinsten Quell unter allzeit bedecktem Himmel.

Prächtig erhoben sich die Bauten der Waldvölker aus den Lichtungen, stufenförmig in die Höhe, und auch sie lauschten dem Wort des Hohepriesters, ihren fernen Hüter preisend. „Ânimhâr! Ânimhâr!“, riefen sie ihn an – den Verborgenen. Ein Bruder des Vitarnya und der größte unter ihnen, dessen Schein allzeit durch die Wolken schimmerte wie Tau im Sonnenlicht. Kraftvoll mag sein Licht sein, weit mag sein Schein wandern, dieses grenzenlose Reich der Vielfalt zu erleuchten.

Doch auch unter Ânimhâr fand uns der Tod, wie er alle Sterblichen fand.
Und einer nach dem andern entschlief unter der Gnade des versteckten Hüters. Lange Jahre waren vergangen und der Hohepriester machte kehrt. Nicht weiter in den Westen wollte er. Nicht weiter in den Norden befahl er.
Und wir waren nur sieben, als wir wieder aufbrachen, gen Süden.

Der Hohepriester betete in den Nächten, und wir hörten ihn sprechen:
„Wohin führst du mich, mein Hüter? Wohin trägst du meine Schritte, Vitarnya?“
Doch zu uns, seinen Brüdern, sprach er nicht mehr.
Und wir gingen durch ein weiteres Land, geplagt von Krankheit und Hunger und Durst.

Und es war zu jener Zeit, dass Asha und Durdra von uns fielen,
denn ihre Leiber waren zu schwach, um in unerforschtes Land vorzudringen.
Fünf blieben an seiner Seite, auch Madera und ich.

Und als wir dem Tode nahe waren, geschah es.
Der Hohepriester rief mit lauter Stimme, wie er es seit langen Jahren nicht getan:
„Sehet! Sehet, meine Brüder! Dort wachet er – der Größte, der Erhabene!
Der König der Hüter! Mahltrak, Königshüter!“

Und wir erhoben unsere müden Augen, und da stand er am Himmel,
unerschütterlich, unverrückbar – ein Bruder des Vitarnya.
Doch sein Herz schimmerte anders, und sein Schein brach in sich selbst,
als sei er eine Hülle, leer und zugleich erhaben.

Und der Hohepriester sprach:
„Hier werde ich den Grundstein legen für das Reich,
das unter den Geboten der Orandia erblühen soll!“
Und er tat, wie er geschworen hatte.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Die Weissagung des Hohepriesters

Und es geschah in der Nacht, da der Hohepriester allein vor dem Hüter kniete,
dass Vitarnya zu ihm sprach, mit einer Stimme wie Donner im Gebirge und wie Sturm über den Wassern, durchdringend bis ins Mark hinein:

„Siehe, ich löse dich vom Lauf der Zeit.
Alter soll dich nicht heimsuchen, noch der Verfall dein Fleisch verzehren.
Doch dies ist mein Bund mit dir:

Du sollst aufbrechen und suchen das Heilige Land, das ich dir zeigen werde.
Und wenn du es findest, sollst du dort gründen ein Reich,
getragen von der Orandia und meiner Weisheit und der meiner Brüder.

Und über diesem Reich soll wachen mein Bruder, der König der Monde,
dessen Name ist Mahltrak, der Empfindsame.
Und in seinem Lichte soll Friede wachsen unter den Menschen,
und sie sollen leben im ewigen Schein der Monde,
und ihre Kinder sollen gedeihen wie die Bäume am Wasser.

Und dieses Reich soll mir ein Zeugnis sein unter allen Völkern.
Wie ein Leuchtfeuer auf dem Berge soll es erstrahlen,
damit die Reiche der Erde erkennen,
dass die Gnade der Monde Leben schenkt und die Orandia den Frieden wahrt.

Doch wisse dies: Dein Weg wird lang sein,
und du wirst wandern, bis dein Verstand dich verlässt.
Denn nur wer die Grenzen des Fleisches überschreitet,
wird das Licht schauen, das jenseits aller Grenzen wohnt.“

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Die Worte des Hohepriesters

Und es begab sich, dass der Hohepriester im hohen Alter vor die Versammlung trat.
Und er sprach, mit Stimme ermattet, doch getragen von dem Feuer der Orandia:

„Lange Jahre habe ich unter euch gelebt,
nicht nach der Zahl der Sterblichen,
sondern nach der Gnade Vitarnyas, der mich löste vom Verfall.

Nicht mir gebührt der Ruhm, sondern dem Hüter,
der mich sandte, ein Reich zu gründen unter dem König der Monde.
Und wahrlich, Mahltrak wachte über uns mit unbewegtem Antlitz,
und sein Licht stand fest wie ein König über unsern Tagen.

Dies war meine Aufgabe:
Euch zu lehren die Gabe der Hüter, die nicht nur im Himmel wohnen,
sondern auch in euch, im Blut, im Atem, im Herzschlag eines jeden Lebenden.

Darum gab ich euch Schrift,
dass ihr die Worte der Monde bewahren möget über die Zeiten.
Darum lehrte ich euch die Zunge der Hüter,
dass ihr ein Leib seid und nicht zerstreut unter den Völkern.
Darum gab ich euch Wissen,
dass ihr sehet: Das Mondlicht ist mehr als Schein.
Es ist das Band, das alles Leben eint –
vom kleinsten Halm bis zum größten der Könige.

Höret: Das Blut ist nicht bloß Fleisch,
es ist das Lied der Monde in euren Adern.
Und wer die Linien erkennt, der erkennt nicht sich allein,
sondern die Träumende selbst, deren Herz in den Himmeln brennt.

Dies, meine Kinder, ist die Lehre, die ich unter euch gegründet habe:
Ein Reich nicht aus Eisen und nicht aus Gold,
sondern gegründet auf Schrift und Lied, auf Licht und Blut, auf Wahrheit und Orandia.

Darum haltet fest, was euch gegeben ward.
Denn Kälte und Dunkel sind allzeit gegenwärtig,
und wer die Gaben verachtet, der wird fallen.
Doch wer sie bewahrt, der wird stehen im Glanz der Monde,
wie Blumen am Wasser, die nicht welken.“

Und der Hohepriester schwieg, und Tränen glänzten in seinen Augen.
Und das Volk erhob einmütig seine Stimmen,
und sie sprachen: „Friede, den Dienern der Hüter.
Friede sei über dem Reich, das du gegründet hast.“

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Die Brücke

Niedergeschrieben von Karachath, Orandist unter Mahltrak

Gesegnet sei Ælvarrûl, der himmlisch-unbewegte Kontinent,
auf dessen Erde die Monde ihre Strahlen senkten.
Im Blute der Sterblichen spiegelte sich ihr Licht,
und unter ihrem Schein gedieh die Menschheit.

Denn aus dem Glanz der Hüter erwuchs die Orandia,
die Brücke zwischen Mensch und Mond,
unsichtbar und doch wahrhaftig,
geheimnisvoll und doch lebendig in jedem Fleisch.

Und siehe: Jene, die das Herz der Monde berührten,
sie wurden Orandisten genannt.
In ihren Händen offenbarte sich das Vermächtnis der Träumenden:
Fünf Linien, fünf Ströme, fünf Aspekte des Seins.

Die Kriegslinie, kraftvoll duftend wie Blut und tödlich wie der Zorn.
Die Lebenslinie, schmackhaft wie die süßeste Frucht und tief in der Trauer.
Die Seelenlinie, klingend wie Harmonie und scharf wie die Gier.
Die Schicksalslinie, weit sehend wie das Auge und stolz wie der Wächter.
Die Königslinie, innig wie zärtliche Berührung und schwer wie die Vergänglichkeit.

Dies sind die Linien, geboren aus den Sinnen der Träumenden,
die sie erfuhr, als sie die Welt erschuf,
und an denen sie zerbrach, als Kälte und Dunkel sie verführten.
Darum setzte sie ihr Herz als Monde an den Himmel,
dass wir nicht verloren seien,
und ihr Vermächtnis leuchte auf Ewig fort in unseren Händen.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Der Auszug aus Mahltraks Schoß

Niedergeschrieben von Jeshira, Orandist unter Mahltrak

Und es geschah, dass die Orandie den Sterblichen ward zum Geschenk,
und das Reich unter Mahltrak erblühte wie ein Garten unter dem Lichte der Monde.

Menschen wurden geboren wie Sandkörner in der Wüste,
und es war ein Reich der Fülle.
Die Orandisten hüteten den Frieden,
sie lehrten die Weisheit der Hüter,
und Mahltraks Herz schlug im Einklang mit den ihren.

Tempel erhoben sich aus der Erde wie Wälder,
Zitadellen wie Berge,
Glockenklang erfüllte die Himmel,
und das Volk kam zusammen,
um dem Hüter zu danken in Nacht und Tag.

Und manche von den Orandisten zogen aus:
in den Norden und den Westen,
in den Osten und über den Ozean in den Süden,
und sie trugen die Lehre der Orandie wie Fackeln in das Dunkel.

Sie wurden Propheten des heiligen Wissens,
und manchen war ein Leben über Jahrhunderte gesegnet.
Die Menschheit wuchs, und das Wissen wuchs,
und das Reich war geeint im Schein der Monde.

Doch eines blieb allen gleich, von Anbeginn bis zum Ende:
Keiner von ihnen trug die makellose Königslinie,
kein Zeichen der Herrschaft ward ihnen zuteil.
So war es beschlossen von den Hütern,
dass das Reich blühe in Fülle und Weisheit,
doch der wahre Herrscher noch ausstehen sollte.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Blut und Fleisch

Niedergeschrieben von Fahn-Hia, Orandist unter Mahltrak

Und es geschah, dass die Menschen begannen zu murren in den Tagen des Friedens.
Denn sie sprachen:
„Siehe, die Hüter stehen hoch am Himmel, fern und kalt.
Sie sind nicht Fleisch von unserem Fleische,
nicht Blut von unserem Blute.
Wie sollen wir ihnen dienen, da wir sie nicht berühren können?“

Da widersprachen die Orandisten,
und sie sprachen:
„Torheit ist es, solches zu begehren.
Denn das Licht der Monde ist in eurem Blute,
und in den Linien ist ihre Nähe zu uns.“
Doch das Volk hörte nicht auf sie,
denn ihre Sehnsucht war groß nach einem Herrn,
der mitten unter ihnen wandle,
und ihr Herz war unruhig wie das Meer im Sturm.

So riefen sie:
„Gib uns einen König, Mahltrak!
Einen, der die Königslinie makellos trägt,
dass wir ihn sehen mit unseren Augen
und ihn berühren mit unseren Händen.
Dieser sei uns Hüter auf Erden,
unvergänglich und doch bei uns.“

Und siehe, es geschah nach den Tagen vieler Jahre,
dass ein junger Orandist, rein an Herz und ungebrochen an Seele,
das Herz Mahltraks berührte.
Und die Königslinie offenbarte sich in ihm makellos,
strahlend wie klares Wasser, das aus dem Felsen quillt.

Da riefen die Orandisten und das Volk mit einer Stimme:
„Dies ist er! Dies ist der König,
der erste unter uns und doch mehr als wir,
der Erwählte des Königs der Monde.
Ein Hüter im Fleische,
ein Herrscher über alle Linien.
Er sei uns König unter dem Königsmond,
und sein Reich sei ohne Ende.“

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Anfang vom Ende

Niedergeschrieben von Cin, Orandist unter Mahltrak
und Befehlshaber der nördlichen Armeen

Und der Auserwählte, den ich Bruder nannte, dessen Königslinie makellos war,
ward gerufen König der Menschen und Hüter genannt.
Und er herrschte wohl über tausend Jahre,
und das Volk lag ihm zu Füßen wie das Gras dem Winde.

Seine Weisheit war groß,
und Friede wohnte in seinen Tagen.
Die Städte wuchsen wie Wälder,
und die Felder trugen Frucht in Überfluss.
Und sein Name ward gepriesen
von den Gestaden bis zu den Bergen.

Doch siehe, die Jahre dehnten sich aus wie Schatten,
und die Last der Unsterblichkeit legte sich auf sein Herz.
Denn er ging auf in den Lastern des Fleisches,
und er nahm die Welt nur noch durch die Sinne wahr:
den Geruch des Weines, den Klang der rauschenden Feste,
den Anblick des Goldes, den Geschmack der Fülle,
das Fühlen unzähliger Körper.

Und seine Brücke zu Mahltrak ward brüchig,
denn er vergaß die Orandie,
und selten noch berührte er das Herz des Mondes.

Da sprach er:
„Wie kann ich König sein unter einem einzigen Mond,
wenn andere Hüter leuchten, die mir nicht huldigen?
Wie kann ich Herr der Menschen sein,
solange nicht jedes Reich den Staub vor meinen Füßen küsst?“

So stellte er Armeen auf,
die die Flüsse des Landes leertrinken konnten,
und Heere, die alles Wild in den Wäldern verschlangen.
Und er sprach:
„Nicht länger will ich nur ein Leuchtfeuer sein unter Mahltrak,
sondern König aller Monde,
Herr über Menschen und Hüter,
Herr über den ganzen Kontinent.“

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch II; Gedeih und Verderb

Niedergeschrieben von Cin, Orandist unter Mahltrak
und Befehlshaber der nördlichen Armeen

Und es geschah, dass der König unter Mahltrak nicht länger Wissen und Gnade brachte,
sondern Furcht und Gewalt.
Wie ein Sturm zog der Tod über die Länder,
in der Gestalt seiner ihm treu ergebenen Heere.
Die Reiche bebten und ihre Mauern zerbrachen,
und kein Herrscher konnte bestehen vor seiner Macht.

Viele Male suchte ich ihn auf und als ich sprach, fiel mein Wort wie Reif zu Boden, denn sein Herz kannte keinen Tau mehr.
Es war verschlossen,
und seine Ohren hörten die Weisheit nicht mehr.
Denn Mahltrak schwieg zu ihm,
und die Orandie, die er in Qual vollzog,
ließ nicht länger seine Linien leuchten,
sondern sein Fleisch zerfallen.

Unsäglicher Schmerz zermalmte ihn, Tag und Nacht.
Die Heiler wichen zurück, da keine Hand sein Leiden stillen konnte.
Sein Schrei fuhr durch die Zitadelle wie der Donner,
und sein Zorn zertrümmerte die Herzen seines Volkes.
Da verfluchte er die Hüter,
und er sprach:
„Meine Seele kehrt nicht heim zu ihm!
Ich will nicht länger Diener Mahltraks sein –
ich will sein Herr sein!
Sein Herz soll mein Herz sein,
sein Geist mein Geist.“

Doch sein Leib versagte,
und die Linien brannten nicht mit Gnade,
sondern fraßen sein Fleisch.

Da ließ er tausende seiner Bürger schlachten,
und aus dem Blut der Unschuldigen
gaben die Schmiede ihm eine Rüstung,
hart wie Eisen und schwarz wie der Abgrund.
Eine Krone aus Stahl setzten sie ihm auf,
und das Blut des Volkes war in sie gewebt.

So ward sein Leib zu Staub, sein Blick zu Feuer,
doch seine makellose Königslinie hielt seinen Geist ungebrochen.
Und die Rüstung ward ihm zum Gefängnis aus Blut und Stahl,
dass Mahltrak ihn nicht heimrufen konnte,
noch sein Herz je Ruhe fand.

Darum nennen wir ihn Vâlgaris, den blutig Stählernen,
den Gefangenen seiner selbst,
dessen Zorn nicht endet,
und dessen Schatten über der Welt liegt.

Buch III: Stimmen

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Ketten

Niedergeschrieben von Môrisûl, Orandist unter Ânimhâr

Unerschütterlich stehen sie am Firmament, und wahrlich: Hüter sind sie in der Tat. Wo die Sonne mit dem Tode des Tages dahinfährt, da schenken sie uns ohne Unterlaß ihr mildes Leuchten. Gesegnet sei der große Kontinent Ælvarrûl – Hort der Hüter.

Dies ist nicht minder als das Vermächtnis der Träumenden – die Linien offenbarten es mir. Wie sie sich hingab, ihre Geschöpfe zu behüten vor Dunkel und Kälte. Ihre Herzen schlagen im Einklang, ihre Leiber atmen noch den Segen jener Göttin, längst dahin.

Doch was nicht einmal meine Brüder in der Orandia zu wissen vermögen: Die Hüter verlangen nach der Wanderschaft über das himmlische Zelt. O ja, es ist wahr! Die Linien zeigten es mir! Ich spürte ihre Sehnsucht, ihr unstillbares Begehren, zu ziehen wie die Nomaden, niemals ruhend, niemals verharrend.

Einst brach einer der Brüder aus und machte sich auf über das große Meer, hin zum Ende der Welten. Seit jener Stunde streift er umher und breitet sein Licht über Länder so weit, wie nicht einmal Ânimhâr, der Gewaltigste, es vermöchte. Mit der stechenden Sonne ringt er in ewgem Zwist: die zwei Läufer.

Doch Ketten sind es, die den Hütern auferlegt. Ânimhâr selber hat es mir geflüstert: Fesseln aus den Gebeinen der Träumenden, sie binden die Splitter ihres Herzens an Ort und Stelle. Ein Werk von Dunkel und Kälte, ersonnen, um sich zu verkriechen in die fernsten Winkel der Welt, da sie harren. Harren sie nicht? Ja, sie erwarten sehnsüchtig ihre Stunde, den Augenblick ihrer triumphalen Rückkehr.

O, und er wird kommen… ich sehe ihn nahen…

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Seelenreise

Brief von Lemirija Radja, Orandistin unter Mahltrak,
an den Herrn über das Reich des Raudralis

Heil dir, mein gelobter Irithias, Herr des Stroms von Raudralis,

möge dich dieses Schreiben erreichen und dein Herz stillen in der Furcht vor dem Ende. Ein unsterbliches Leben, fernab der Lehren der Orandia, vermag ich dir nicht zu schenken. Kein sterblich Fleisch vermag dem Alter oder dem Tode zu entgehen, doch die Hüter lassen keines ihrer Kinder im Dunkel vergehen.

Seit alters her heißt es, ein jeglicher Mensch kehre heim zu seinem Hüter, wenn er im Schein desselben stirbt. Arm wie reich, Herr wie Knecht – alle ruhen in der Brust dessen, unter dessen Licht sie geboren sind.

Doch was geschieht mit denen, die fern von ihrer Heimat fallen, unter fremdem Himmel, in fremdem Licht? Für sie haben die Hüter einen anderen Weg bereitet. Die Seelen solcher Sterblichen werden nicht verlassen, sondern geleitet über das große Meer des Westens, in das Land von Targmatar. Dort, im Reich des wandernden Hüters, finden sie Ruhe, wo kein Schmerz sie mehr ergreift und kein Dunkel sie mehr verschlingt.

Fürchte nicht, mein Herr, der du bist fern des heimatlichen Hüters. Ob unter Vitarnyas Schein oder in der Ferne – die Hüter wissen um dein Leben, und keiner deiner Schritte bleibt unerkannt. Gehst du in der Fremde, so geleiten dich die Brüder Vitarnyas in das gelobte Land Targmatar, zum Hüter der Seelen, wo alle Wanderer Heimat rufen dürfen.

Dies ist der Trost der Orandia: Kein Tod ist verloren, kein Leben vergebens.

Darum sei frohen Mutes, mein Herr. Ob deine Seele heimkehrt zu Vitarnya oder ob sie wandert bis nach Targmatar – die Hüter halten sie fest in ihren Herzen. Kein Dunkel vermag es dich ihnen zu entreißen. Keine Kälte dich je zu erfassen.

Geschrieben unter Mahltraks Schein,
von deiner getreuen Lemirija

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Nachricht von der Front

Brief von Faelias, Orandist unter Mahltrak,
an Cin, Orandist und Heerführer unter Mahltrak

Den wahren König zum Gruß, Cin, mein Herr!

Der Plan hat gefruchtet. Zehntausend Mann schickte er gegen uns – und zehntausend sind gefallen!
Das Blut meiner Brüder klebt an mir, an meinem Stahl, an meiner Haut. Ich habe in ihre Augen geblickt, als der letzte Funke erlosch. Und ich frage: O Mahltrak – warum? Wie weit habt ihr uns getrieben? Warum ließet ihr ihn herrschen, den falschen König aus Blut und Stahl?

Bei allen Hütern – ich schwöre, ich ruhe nicht, bis Vâlgaris am Boden liegt. Doch hört: Die Stellungen an der Grenze der Dämmerung sind gefallen. Unsere Brüder sind zerschmettert, ausgelöscht. Der Süden liegt offen, Cin! Und überall erreicht mich die frohe Kunde des Sieges – doch in meinem Herzen pocht nur die Frage: Ist es der rechte Weg?

Was, wenn die Hüter uns für diese Flut aus Blut verstoßen? Was, wenn unsere Seelen nicht heimkehren dürfen? Was, wenn all dies Schlachten nur Staub ist – und der Stählerne am Ende doch nicht fällt?
Sag mir, wer uns schützt, wenn sein Zorn sich über uns ergießt? Ihr, Cin? Oder wir alle, die wir nur noch mit gebrochenen Leibern und brennenden Linien kämpfen? Ist es dies, ihr Hüter, was ihr für diese Welt ersehntet?

So höre, mein Heerführer: Wir ziehen gen Süden. Wir schlagen, wir brennen, wir reißen seine Türme nieder. Wir trampeln seine Städte und Dörfer zu Boden. Und wenn es uns hunderttausende kostet: Der Fluch Mahltraks soll stürzen, der falsche König vergehen!
Und dann – bei allen Hütern – soll endlich Friede sein, oder nichts bleibt als Asche!

Ehre sei Mahltrak! Ehre dem König am Himmel!

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Der Krieg der Orandisten

Niedergeschrieben von Lyrion, Orandist unter Mahltrak

Und es geschah, dass das Reich der Einheit, Mahltraks Weltreich, entzwei brach.

Auf der einen Seite standen jene, die stolz in die Ferne zogen, die Reiche der Hüter niederwarfen und dem fleischlichen König dienten. Er trug die makellose Königslinie, Zeichen absoluter Macht. Denn so sprachen seine Getreuen:
Nur der Mensch soll über den Menschen herrschen.“

Unzählige sammelten sich unter seinem Banner. Sie plünderten und brandschatzten unter Vitarnyas Schein im Osten, sie drangen hinauf bis in den hohen Norden, und selbst den ungezähmten Westen unter Ânimhârs Glanz suchten sie heim. Vâlgaris’ Heer wuchs wie eine Flut.

Die Anführer seiner Scharen nannten wir die Gefallenen Orandisten. Ihre bloßen Namen trieben Furcht und Verderben in unsere Reihen. Unsterblich waren sie, mit gewaltigen Kriegslinien gesegnet, und sie pflügten durch die Reihen derer, die ihr Leben der Rebellion und Freiheit verschrieben hatten.

  • Nihilas, der Verrottete. Schrecken aller Soldaten, denn man sagte, er aß vom Fleisch der Männer, die vor ihm fielen, und im Tod selbst fand er seine Lust.
  • Sharra, der Große. Ein Riese mit der längsten Kriegslinie, die je ein Auge sah. Ein Mann schien vor ihm wie ein Knabe. Sein Hieb fällte Eichen, sein Zorn erschlug hundert auf einmal.
  • Lardrak, der Versenger. Flammen trug er am Rücken, und in der Schlacht formten sie Schwingen. Mit ihnen entfachte er einen Sturm aus Asche und Glut, ein Ungetüm aus der unbekannten Welt.

So kämpften sie als Orandisten für eine falsche Sache – mit dem Segen der Hüter selbst, doch gegen die Hüter gerichtet, um einem fehlgeleiteten Monstrum das Knie zu beugen.

Doch auch die andere Seite besang ihre Helden.

  • Cin, die frostige Klinge. Unser Anführer, der uns die Augen öffnete für das Übel, dem wir zu lange dienten. Furcht ist ihm fremd, und sein Geschick auf dem Schlachtfeld sucht seinesgleichen.
  • Titanius, der unsterbliche Prophet. Sohn des Cin, kein Kämpfer mit der Klinge, doch weise in der Voraussicht. Seine Schau entriss uns Siege, die schon verloren schienen. Beim Hüter – ich wünschte keinen treueren an meiner Seite!
  • Ithirial, der fahle Schlächter. Gnadenlos im Duell, tödlich für seine Brüder. Seine Kriegslinie ist rein wie klares Wasser, und kein Orandist vermag der Gewalt seiner Stimme zu widerstehen.

Mit diesen und allen, die reinen Herzens sind und die Freiheit unter den Hütern suchen, wollen wir aufstehen gegen ihn.

Mahltrak sei mit uns!

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Linien im Fleisch

Niedergeschrieben von Zelmar, Ausgestoßener Orandist unter Vitarnya

So nennen sie es: Orandia, das Siegel der Gezeichneten. Wahrlich, es ist ein Wunder! Viele Jahre meines Lebens, unsägliche Geduld und Mühen habe ich ihren unerträglichen Lehren hingegeben – und nun glühen auch meine Linien.

Sie sagen, nur die Erwählten vermögen das Herz des Mondes zu berühren. Ha! Was sagt dies über den Hüter aus, wenn er selbst einem Mörder wie mir solche Gaben schenkt? Kennt er mich denn nicht? Dabei heißt es doch, dass alles Leben Vitarnya entspringt. Nichts geschieht ohne sein Wissen und kein Samen gedeiht fernab dem Mondlicht. Ein Heuchler, nichts weiter ist Vitarnya! Ich habe mir genommen, was mir gefiel, und er hat es geschehen lassen.

Doch siehe – im Gegensatz zu den Brüdern meines Ordens glimmt meine Lebenslinie schwach. Soll das bedeuten, dass mir kein reiches Leben beschieden ist? So sei es! Dann will ich das Beste aus den wenigen Jahren machen, die mir bleiben.

Noch in dieser Nacht breche ich auf. Diese Narren sollen mich nie wieder sehen. Ich gehe gen Westen, in das verheißene Land unter Mahltraks Glanz. Man sagt, dort gebe es alles, was das Herz begehrt: Mahl wie für Könige, Wein im Überfluss, und eine Frau für jede Nacht. Wahrlich, das muss das Paradies sein.

Und warum nicht? Wer würde einem Erwählten der Hüter je einen Wunsch versagen?

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Der Wahnsinn der Hüter

Niedergeschrieben von Lûmar, Heiler am Hof von Fjalmûr

Nie zuvor erblickte ich vergleichbares Grauen, wenngleich ich die heimgekehrten Krieger aus der Schlacht umsorgte. Der Mann nagte die Finger bis auf den bloßen Knochen. Er zermahlte sein eigen Fleisch, als sei er eine Bestie. Sein Antlitz war von einem Hass erfüllt, gegen sich selbst und gegen die Menschen, wie ich ihn nie gekannt habe. Das Weiß in seinen Augen… es rann ihm aus den Höhlen. Er fluchte, tobte und drohte, als wohne ein andrer in seinem Leib.

Ein Priester des Ânimhâr war er… und seine Brüder raunten, er sei unwürdig vor dem Hüter gestanden. Er wagte sich an die Orandia, lange bevor er reif war. Immer wieder rief er den Hüter an, bis es geschah.

Der Meister spricht, er kenne solche Fälle zur Genüge – Männer und Frauen, die wähnen, die Orandia sei leicht zu ertragen. Doch ihre Torheit wird ihnen zum Verderben. So lauten seine Worte, die ich mir wohl gemerkt habe:

„Ein Gebet vermag jeder Narr zum Hüter zu sprechen.
Den Lehren der Orandia zu folgen, Beharrlichkeit und Selbstaufgabe zum Mittelpunkt des Seins zu machen, vermögen wenige.
Doch nur die, die alles loszulassen bereit sind, die in völliger Hingabe aufgehen, die ihren Geist befreien und ihre weltlichen Sinne zum Schweigen bringen – nur jenen erlaubt der Hüter, sein Herz zu ergreifen.“

In Wahrheit… wenn ich sehe, wie die Häuser der Geisteskrankheit überquellen wie Latrinen im Sommer, dann zweifle ich nicht länger daran: die Orandia ist eine Gefahr für Leib und Seele. Und sie jagt mir heiden Angst ein.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Herzen am Himmel

Niedergeschrieben von Lemirija Radja, Orandistin unter Mahltrak

Was ist es, das den sterblichen Leib über viele Jahre antreibt? Das Herz schlägt Stund um Stund, ohne Rast, ohne Ende. Es trägt das Licht der Hüter durch die Bahnen aus Blut in uns und erhellt unser Sein.

Immer schon pulsierten die Inneren der Hüter, während sie ihren Schein von Tag und Nacht über die Welt warfen. Mehr als bloße Monde sind sie: Sie sind Leben selbst. Das Rumoren, das Atmen am Himmelszelt macht sie zu einem Teil von uns. Kein stummer Fels, kein ferner Stern, keine blendende Sonne – nein, die Hüter verlassen uns nie. Ihr Licht beflügelt uns, sanft streichelt es die Augen, und mit jedem Herzschlag atmen wir im Einklang mit ihnen. Ja, sie sind so voller Leben wie wir schwachen Sterblichen.

Dies war seit Anbeginn so. Doch erst dank des Hohepriesters – des Ersten, der das Herz berührte – wissen wir, dass auch in den Leibern der Hüter Herzen schlagen: voller Kraft und voller Glut, das Dunkel und die Kälte von ihren Kindern fernzuhalten.

Und doch… das sterbliche Herz vermag zu erkranken. Sünde, Laster, Bosheit befallen es wie giftige Seuche. Oft frage ich mich, unter Mahltraks klarem Leib des Abends: Was, wenn auch die Herzen der Hüter dem Dunkel anheimfallen könnten? Was, wenn ihre Gunst erlischt und die Linien in uns brennen in verzehrender Glut? Was, wenn einer von ihnen sich gegen uns wendet?

Sind die Herzen der Hüter wahrlich frei von aller weltlichen Last?
Oder wuchert in ihrer Tiefe etwas allzu Sterbliches, das auch sie bedroht?

Bei Mahltrak, meinem König – lass die Linie sich irren, nur dieses eine Mal…

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Ein Käfig aus Leid

Niedergeschrieben von Hartherm, Meisterschmied und Orandist unter Mahltrak

Bei allen Hütern… was habe ich getan? Die Leiber meiner Brüder und Schwestern, ihrer Söhne und Töchter und deren ungeborener Erben – sie türmen sich zu grotesken Bergen. Das Blut fließt in Strömen, nicht mehr um des Lebens willen, sondern als Kerker. Es bindet den Stahl… und erfüllt ihn mit dem Leben der Monde.

In meinen Träumen sehe ich ihre Gesichter. Sie suchen mich heim, rufen meinen Namen: „Sünder! Verräter! Mörder!“, heißen sie mich. Ihr Hass lähmt meine Arme, sodass ich den Hammer nie mehr zu erheben vermag.

O Mahltrak, warum hast du mich mit dieser Gabe gestraft? Warum ich? Warum musste ich es sein, der dies verteufelte Werk erschuf? Du gabst mir die Linien und ließest mich formen. So viele von ihnen ließ er schlachten wie das Vieh. Welches Vergehen habe ich begangen, um so zu büßen? Ihr wusstet es. Habt meine Sünde vorausgesehen, nicht wahr? Mahltrak, falscher König, habt Ihr deshalb mein Weib und meine Söhne zu Euch gerufen? Verflucht seid Ihr und Eure Brüder!

Ja – ich war es, Hartherm der Schmied, der seinen dampfenden Leib gebar. Dreißig Tage und dreißig Nächte formte ich den Stahl des Südens, der nun seine Seele hält wie ein Käfig. Er wird nicht heimkehren. Er bleibt. Nicht als Mensch, nicht sterblich – nein, Vâlgaris, König über Hüter und Menschen, ist weit mehr als das.

Und niemand wird ihn noch aufhalten. Niemals.
Ihr Hüter, entsendet all eure Wut, ruft eure Orandisten, entfesselt eure Streitmächte – denn der Stählerne König wird sie alle niederschmettern, und alles wird vergehen.

Werdet nun Zeuge auf eurem himmlischen Thron, wie der Mensch aufbegehrt.
Ihr hofftet wir würden euch auf ewig dienen? Narren! Er wird uns führen.
Die Rebellion möge beginnen und bei meiner Ehre – ihr werdet fallen.

Heil dir, Vâlgaris der Stählerne! Heil dir, Herr des Königsmondes!

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Blutgier

Niedergeschrieben von Nevtarus, Herr der Provinz Amrakîr unter Mahltrak

Wiederum geschah es. Ein ganzes Dorf im Norden ist dahin – verschwunden ohne Spur. Mein getreuer Marschall vermeldete, es sei, als wären fünfzig Seelen – Mann, Weib und Kind – vom Erdboden verschlungen und gen Himmel zum Hüter entrückt. Doch dies war nicht das erste Mal.

Noch unlängst trat ein Gezeichneter vor mich, ein Orandist aus der Hauptstadt im Westen. Allein kam er, nur mit seinem Roß, und verkündete die Gnade Mahltraks. Ach, der Hüter lenke sein Auge doch lieber auf mein Land! Denn etwas Finsteres regt sich nächtens in Fluren und Wäldern. Meine Knechte durchstreifen mit Hunden Nacht für Nacht den Forst – vergeblich.

So wunderlich mir jener Mann auch deuchte, so sprach er doch Worte, die mir nicht aus dem Sinn wollen:
„Der Hüter ist um euch und in euch! Seine Gnade strömet durch euer Blut und eure Herzen! Das macht uns eins mit ihm!“

Gar seltsame Gerüchte erreichen mich seit geraumer Zeit. Im Nordosten, nahe den Bergen, hauset ein Kult, der sich nährt vom Blute Mensch und Tier. Reisende künden, sie raubten Mann und Weib, Knabe und Magd, und tränken sich am Lebenssaft derer. Solche Sünde, so heißt es, mache, daß die Seele des Opfers in den Leib der Frevler fahre.

Und so frage ich mich: Wenn die Kraft des Hüters wahrlich in unserm sterblichen Blute fließt – was geschieht, wenn diese mordgierigen Bestien davon kosten?

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch III; Mein Hass

Niedergeschrieben von Drûmar, dem Entrückten

Und ich rief es aus in die Hallen des Tempels, doch sie antworteten mir nur: »Nicht noch einmal.« Sie sprachen: »Zwecklos,« und sie säuselten: »Unwürdig,« und ihr letztes Urteil war: »Ketzerisch.« Sie sagten Vitarnya, der Gelobte, wandte sich von mir. Unrein nannten sie mich, unwürdig der Orandie, verflucht unter jenen, die berufen sind zu hüten.

O Vitarnya, du, an den wir den Atem binden, mögest du vom Himmel fallen! Warum hast du dein Auge nicht auf mich gerichtet? Warum wählst du jene Kriechenden, jene Bettler, die dein Licht mit bebender Hand erflehen? Bin ich nicht des großen Lehnsherrn Sohn, Erbe weitgespannter Ländereien? Und doch verschließt du dein Herz. Ist es Furcht? Erschaudert deine ganze Gloria angesichts meiner Gestalt unter den Sterblichen?

Ich will nicht länger bitten, ich werde nehmen. Denn was ist ein Herz, das begehrt, wenn es schweigend verhungern soll? Wenn deine Gaben nicht freigebig fallen, so will ich mir rauben, was dir am nächsten ist: den Trunk des Lebens. Ja, dein Schein fließt durch unsere Adern, dein Leben mischt sich mit unserem Blut. Du gabst uns Leben, und Leben ist in uns. Darum weiß ich: es gibt Pfade genug, die zum Verheißenen führen, und nicht alle laufen durch deine Hand.

Die Toten, die ich nehmen werde, ihr Blut, das ich mir einverleibe, all dies tue ich in deinem Namen, o Hüter; denn deinem wachsamen Blick entgeht nichts, so sagen sie. So sieh nun zu, Vitarnya, und sei Zeuge. Schau, was ich formen werde aus der Schmach deiner Ablehnung. Sieh, wie meine Hand wächst, wo deine mich verwarf. Dies ist erst der Anfang; und meine Gier nach deiner Macht wird nicht ruhen, bis ich selbst das Licht halte, das du verschlossen bewahrst.

So spricht Drûmar, der Entrückte: Verfluchen magst du mich — doch die Welt wird meine Taten bezeugen.

Buch IV: Fall

Auszug aus dem Orandârion; Buch IV; Die große Finsternis

Verfasser unbekannt

Oh weh, welch Dunkel!
die Nächte sind von Schwärze verhüllt,
und Verzweiflung hallt durch die öden Tage,
während eisig Kälte mein Gebein zerfrißt.

Der König ist gefallen.
In unendlichem Zorn verhüllte er das Licht,
und seine Brüder sind dahin.
Sind sie tot?
Schlagen ihre Herzen noch?
Meine Linien – sie sind erloschen.
Wo bist du, Mahltrak?
Wo weilen deine Brüder?
Warum verlaßt ihr eure Kinder?

Es geschah in einem einzigen Augenblick.
Der König am Himmel, er glühte,
doch sein Herz war zerfressen von Sünde.
Schwarz ward es, wie tiefster Teer,
und sein Leib erfüllte sich mit brodelndem Dunst.
Da zerbrach er.
Sein Splittern erschütterte alle Länder,
und er stürzte.
Glühende Narben klafften am Firmament,
und selbst in meinem bescheidenen Turm zu Hrimdall
fuhr es mir durch Mark und Bein.

Ein Hüter ist gefallen –
ist nun der jüngste Tag gekommen?
Welches düstere Schicksal ereilte Mahltrak?
Welche Zukunft harrt der Sterblichen?
Ihr Linien – warum schweigt ihr?
So flammt doch auf, zeigt mir die Bilder!

Doch es ist vergebens.
Die Schwärze würgt die Welt.
Wie lange noch?
Wie lange, bis wir alle einsam vergehen?

Ihr Hüter – vergebt uns unsere Sünden!

Auszug aus dem Orandârion; Buch IV; Die Welt stirbt

Verfasser unbekannt

Sie sind entschwunden. Kaum einer von ihnen zeigt sich noch; die Orandisten — in ihrem unheilvollen Krieg haben sie den König der Hüter verdorben und ihn dem Fall preisgegeben. Mahltrak ist verschwunden, und die Welt liegt in schwarzem Tuch geborgen. O Hüter! Seid ihr noch da? Schaut ihr noch hernieder auf unser Elend, oder hat euch der schwarze Brodem gleichfalls verschlungen? Euer Licht fehlt mir; niemals waren die Tage so öd, die Nächte so allein.

Die Menschen misstrauen einander und Qual ist ihr steter Gast. Das Vieh verfällt, das Korn vergeht im Faul, die Regentropfen brennen wie glühende Asche auf der Haut, und die Flüsse führen bitteres, giftiges Wasser. Ach weh mir! Alles Leben löst sich auf. Was ist der Mensch angesichts solchen Hasses? Was haben diese Orandisten dir angetan, Mahltrak? Sie stürzten uns alle ins Verderben. Sollte ich auch nur ein einziges Mal noch eine Linie an einer Hand glühen sehen, so schwör’ ich — ich werde selbst den Tod bringen.

So viele sind verloren, ihre Seelen der Verdammnis überliefert, weil kein Hüter am Himmel mehr wacht, der sie leiten könnte. Jene schwarzen Wolkenberge lassen meine Knochen klappern; denn ein namenloses Übel wohnt in ihnen. Ein fahles Leuchten zuckt durch die Düsternis, und Gesänge, als stammten sie aus dem tiefsten Abgrund, werden von den Winden getragen. Fast scheint, die Welt stehe auf dem Kopf, und nun bedecke der Abgrund den Himmel.

Etwas lauert in jenem erdrückenden Schatten — ich fühle es. Es schleicht heimlich übers Firmament und labt sich an unserem Elend; es weidet sich an der Trennung von den Hütern. Es giert nach unseren Seelen…

Mein Reich ist zerbrochen, die Felder sind verdorrt, das Volk gepeinigt von Seuchen und Fäulnis — die Hüter haben uns verflucht. Es dürstet mich nach Wein, doch hilft auch das nicht; meine Gedanken finden keine Ruh. Und wie ich nun in meinem Stuhl vor dem erloschenen Kamin sitze, von allen verlassen, das Ende erwartend, quält mich eine einzige Frage: Wenn diese Bosheit dem Antlitz der Hüter trotzt, was vermag dann noch ein sterblich Leben auszurichten?

Buch V: Anhänge

Auszug aus dem Orandârion; Buch V; Kalendarium

Niedergeschrieben von den Gelehrten Ath-Almars unter Vitarnya

Monate im Zeichen Vitarnyas

  1. Wolfswogen
  2. Sturmwogen
  3. Stillwasser
  4. Saatfluss
  5. Hasenlauf
  6. Düsterwurf
  7. Honigwein
  8. Goldwogen
  9. Sternenfall
  10. Blutmond
  11. Geistfeuer
  12. Eichenschlag

Das Jahr unter dem Hüter Vitarnya teilt sich in zwölf Monate, und ein jeder trägt die Stimmung des Lebendigen in sich, wie sie den Sterblichen offenbar ward.

Zuerst erheben sich die Wolfswogen, wild und jagend, und die Ströme Vitarnyas treiben das Leben voran.
Darauf folgen die Sturmwogen, tosend und ungestüm, da sein Wille Himmel und Erde gleichsam bezwingt.
Mit dem Stillwasser beruhigt sich sein Herz, und Stille liegt über Feldern und Fluren.
Im Saatfluss schenkt er den Menschen die Gaben des Landes, und die Erde trägt neue Frucht.
Es naht der Hasenlauf, da der Hüter hüpft und spielt in jugendlicher Hast.
Doch der Düsterwurf verschlingt die Sonne; Vitarnya verhüllt den Tag in graues Kleid. Dann gedenken seine Kinder seiner in Gesang und Demut, und Maßlosigkeit soll fernbleiben aus allen Häusern.
Aus der Einkehr aber wächst der Honigwein, süß und reich, ein Trunk der Freude.
Dann glänzen die Goldwogen auf seinem Leibe; Fülle und Überfluss herrschen im Osten, Tier und Trank sind in Hülle vorhanden.
Doch bald folgt der Sternenfall: Vitarnyas Hauch entzündet die tausend Lichter des Himmels, und Nacht wird zum Mantel aus Glanz.
Mit dem Blutmond schwindet sein Reif, der ihn umschließt und nie zerreißt; ein Zeichen des Vergehens und der Erneuerung.
Darauf flammt das Geistfeuer, da die Toten in seinem Schein Einzug halten und sich in herrlichen Bildern den Lebenden offenbaren.
Und endlich naht der Eichenschlag: mit ihm erfüllt sich Vitarnyas Herz von neuer Stärke, die Wurzeln erzittern, und das Jahr neigt sich dem Ende, bereit, von neuem zu beginnen.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch V; Dreieinigkeit der Orandia

Niedergeschrieben von den Gelehrten Juhr Emiqs unter Vitarnya

Credo der Orandie

Das Herz ist der Sitz des Lebens.
Es schlägt im Menschen wie im Hüter, und in seinem Rhythmus atmet die Welt.

Die Linien sind die Siegel im Fleisch.
Sie leuchten, wenn der Sterbliche das Herz des Mondes berührt, und sie weisen den Weg zur Gnade wie zum Verderben.

Das Blut ist der Strom zwischen Himmel und Erde.
Es trägt das Mondlicht durch die Adern, bindet Sterbliches an Unsterbliches, und im Opfer offenbart es Macht und Fluch zugleich.

So sind Herz, Linie und Blut das Band der Orandie –
Leben, das sich der Hüter schenkt, und Leben, das er zurückfordert.

 

Auszug aus dem Orandârion; Buch V; Hymnen der Hüter

Gesang des Vitarnya

O Vitarnya, Aug am Firmament,
siehst du uns wandeln, siehst du uns ziehn.
Dein Blick durchdringt die Schleier der Zeit,
Schicksal webst du in unser Fleisch mit ein.

O Vitarnya, Wächter am Himmelszelt,
dein Licht entlarvt den Hochmut der Herrn.
Kein Turm, der deinem Aug entgeht,
kein Herz, das nicht als dein Spiegel steht.

O Vitarnya, du Hüter der Hybris,
lass uns nicht trunken sein vom eignen Glanz.
Denn wer sich höher erhebt als du,
der stürzt in Finsternis, fern dem Schein.

Gesang des Ânimhâr

Ânimhâr, du Gigant des Abends,
in deinem Schimmer keimt das Korn.
Du füllst die Kelche, du brichst das Brot,
du tränkst die Lippen mit süßer Fülle.

Ânimhâr, Herz der Trauer,
unter dir weinen wir um die Toten.
Dein Licht umhüllt sie wie ein Mantel,
und deine Hände legen sie zur Ruh.

Ânimhâr, Lebendiger im Sterben,
dein Dämmerlicht ist Trost und Mahl.
Denn du bist der Mund am Himmel,
der schmeckt und atmet für uns alle.

Gesang des Gòltherar

Gòltherar, Ungetüm des Zorns,
wir riechen dich im Brand der Städte.
Dein Hauch ist Eisen, Blut und Rauch,
dein Odem füllt die Nacht mit Schmauch.

Gòltherar, Schwert im Himmel,
dein Brüllen hallt in unseren Hallen.
Wer deinem Ruf folgt, kennt kein Erbarmen,
wer sich dir stellt, wird Staub im Sturm.

Gòltherar, Herr der Drachen,
Asche, Schweiß und Schwefel sind dein Werk.
Wir atmen dich ein, wir atmen dich aus,
bis unser Herz in Wut vergeht.

Häufig gestellte Fragen

Was möchtest du, dass Leser aus der Geschichte mitnehmen?

Alles, was sie für wertvoll genug befinden, mit sich zu nehmen.

Wird es eine Fortsetzung geben – und falls ja, wann?

Definitiv. Ich schreibe schon fleißig an Band II. Aber es wird noch dauern …

Wie würdest du die Welt deines Romans in drei Worten beschreiben?

Verfall des Himmels

"Kein Licht entkommt dem Nebel"

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